Jeremy Seewer geht optimiert auf Titeljagd
Jeremy Seewer während einer Trainingsfahrt auf Sardinien, wo er viel Vertrauen in sich und seine Rennmaschine gewonnen hat. Bild: Yamaha-Racing
Alles scheint angerichtet für Jeremy Seewers Jagd auf den Weltmeistertitel. Die Topkategorie MX-GP ist für den 25-jährigen Bülacher kein Neuland mehr. In den ersten beiden Jahren hat er sich an das Niveau im Feld der Weltbesten mehr als nur angepasst: Nach dem 8. Platz in der WM-Gesamtwertung zum Einstieg ging es 2019 rasant nach oben, auf Rang 2. Und das, obwohl er sich rund einen Monat vor dem Start eine Lungenentzündung eingefangen hatte, die seine Saisonvorbereitung stark beeinträchtigte und deren Folgen ihn auch in den ersten Rennen bremsten. Seinen 2. Platz in der Gesamtabrechnung der 38 Rennen fuhr er wohlgemerkt im Jahr eins als Yamaha-Werkspilot ein. Nach nur einem Jahr im Wilvo-Yamaha-Team musste sich Seewer damals zwar nicht mehr an ein neues Motorrad gewöhnen, wohl aber sich in einem ungewohnten Umfeld mit neuen Mechanikern und Abläufen zurechtfinden. Vor diesem Hintergrund glänzt sein WM-Silber von 2019 umso heller. Gleichzeitig steigen damit freilich die Erwartungen, heuer den finalen Schritt an die Weltspitze zu gehen.
Dies umso mehr, als Jeremy Seewer heuer in den letzten Tagen vor dem Auftakt auf einen idealen Verlauf der rennfreien Zeit zurückblicken kann. «Weil ich diesmal im selben Team geblieben bin, musste ich im Oktober keine Extra-Testtage absolvieren und konnte ganz abschalten, bevor es im November mit dem physischen Aufbau und im Dezember mit dem Training auf dem Töff losgegangen ist», schildert er. Seine gute Laune und der Optimismus sind auch via Mobiltelefon deutlich herauszuhören. «Den Winter habe ich bestens überstanden, ich fühle mich jetzt sehr gut und von Anfang an bereit. Das ist der Hauptunterschied zum letzten Jahr.»
Jeremy Seewer und sein Töff: eine erfolgreiche Kombination, die heuer noch besser funktionieren könnte. Bild: Yamaha-Racing
Die Saisonvorbereitungszeit stand heuer denn auch unter dem Motto Optimierung. Die längere Pause im Herbst sorgte für ein Plus an mentaler Frische. Im physischen Bereich ging es darum, mehr herauszuholen und das Gesamtpaket noch besser zu machen, wie Seewer es ausdrückt. Ein Schwerpunkt lag auf der Stärkung der Schultermuskulatur. Auch in Bezug auf sein 70 Pferde starkes Arbeitsgerät, die Yamaha YZF-450 FM, stand in erster Linie Feintuning an.
Ein Wechsel ohne Folgen
«Die Maschine hat ja letztes Jahr schon sehr gut funktioniert», führt Seewer aus, «wir haben darum manches ausprobiert, aber wieder verworfen. Letztlich geht es nur noch um kleine Schritte.» Vor allem an der Federung habe er mit seinem persönlichen Mechaniker Volker Lindner und dem Yamaha-Werksteam gearbeitet. Letzteres ist im Motocross-Bereich neuerdings formell unter dem Dach von Seewers 2018er-Rennstall Wilvo Yamaha organisiert. «Für mich ändert sich dadurch nichts, ich arbeite mit denselben Leuten zusammen, auch materialmässig sind die Bedingungen unverändert gut.» Bis 2021 läuft sein aktueller Vertrag mit dem japanischen Mischkonzern. Wird er ihn am Ende dieser Saison als Weltbester neu aushandeln können?
«Weltmeister zu werden, ist von klein auf mein Traum, und ich will ja jedes Jahr einen Schritt vorwärtskommen», antwortet der 25-Jährige darauf, «der Titel ist darum logischerweise das Ziel, das ich dieses Jahr verfolge. Aber ich setze mich damit nicht zu sehr unter Druck.» Das erscheint nur schon aufgrund der hochkarätigen Konkurrenz ratsam. «Es gibt fünf andere Fahrer, die für den WM-Sieg infrage kommen, ehemalige Weltmeister, GP-Sieger, undundund», zählt er auf.
Hoch in der Luft: Jeremy Seewer beherrscht sein Motorrad auch ohne Bodenhaftung. Bild: Yamaha-Racing
Vielseitig und konstant
Als Topfavoriten sieht Jeremy Seewer die Titelträger der beiden vergangenen Jahre, den Slowenen Tim Gajser und dessen Vorgänger Jeffrey Herlings aus den Niederlanden. Ausserdem gelte es, den neunfachen italienischen Welt-Champion Antonio Cairoli zu beachten, ebenso wie Jorge Prado. Der erst 19-jährige Spanier holte 2019 den Titel in der zweithöchsten WM-Serie MX-2 und ist nun schon aufgestiegen. Beide müssten nach Verletzungen während respektive nach der vergangenen Saison aber erst zur vollen Stärke zurückfinden, schätzt Seewer.
Für den erstmaligen WM-Gewinn des Fahrers mit der ewigen Startnummer 91 spricht die enorme Konstanz. «Ich mache wenig Fehler und bin auf jeder Strecke vorne dabei, egal auf was für einem Untergrund», sagt Seewer. Vonseiten seines Teams oder seines Umfelds verspüre er trotz alledem keinen Druck, heuer den Titel holen zu müssen. «Alle, die sich ein bisschen in unserem Sport auskennen, wissen, wie schwierig das ist, und ich muss niemandem mehr etwas beweisen.» Den grössten Druck mache er sich sowieso selbst. Doch auch da kennt der 25-Jährige einen Grund für Gelassenheit. «Ich bin ja noch immer jung und habe noch ein paar Jahre Zeit», sagt er, «das ist anders als in meinem letzten Jahr in der MX-2-WM-Serie, als ich unbedingt die letzte Gelegenheit nutzen wollte und mich deswegen zum Teil auch verkrampft habe.»
Jeremy Seewer blickt der neuen WM-Saison mit Optimismus und Respekt vor den Gegnern entgegen. Bild: Fabienne Andreoli.
Im elterlichen Wohnmobil nach England
Auch den nahenden WM-Auftakt im südenglischen Matterley Basin, wohin ihn seine Eltern im Wohnmobil begleiten werden, versucht er einigermassen entspannt zu nehmen. «Die Saison ist lange, und diejenigen, die gleich im ersten Grand Prix ganz vorne mitfahren, können das unmöglich über alle 38 Rennen durchziehen», erklärt Seewer, «darum versuche ich, jetzt 90 Prozent abzurufen – und in ein paar Wochen mein Toplevel zu erreichen.» Eine Taktik, mit der er in der Vergangenheit weit gekommen ist.
Text: www.zuonline.ch